Die Geretteten und die Toten by Ingrid Glomp

Die Geretteten und die Toten by Ingrid Glomp

Autor:Ingrid Glomp [Glomp, Ingrid]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2016-04-05T22:00:00+00:00


8

„Wir sind heute ziemlich unterbesetzt. Das habe ich Ihnen ja schon am Telefon erklärt“, sagte Kurt Beermann, während er Chris durch einen Raum mit drei Telefonarbeitsplätzen in sein eigenes Büro führte. Die Möblierung war einfach, aber zweckmäßig. Einige Pflanzen und bunte Bilder sorgten für eine fast fröhliche Atmosphäre, während Bücher, Akten und Computer dem Ganzen einen seriösen Anstrich gaben. In beiden Zimmern hing je ein großes Schild in bunten Farben, auf dem nur ein Wort stand: ZUHÖREN!

Beermann war Psychologe und leitete die Mannheimer Hotline für Menschen in Lebenskrisen. In seinem Büro standen ebenfalls zwei Schreibtische. Er drehte den Stuhl des einen so herum, dass Chris sich ihm gegenüber hinsetzen konnte.

Dann ließ er sich ächzend auf den Stuhl hinter seinem eigenen Schreibtisch sinken.

„Zwei meiner Mitarbeiterinnen sind krank. Irgend so ein Magen-Darm-Virus. Und der dritte kann heute erst später kommen.“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Manchmal ist es wie verhext. Es kann also sein, dass ich ein Gespräch annehmen muss. Das hat natürlich Vorrang.“

Chris nickte. „Gut, dann komme ich gleich zur Sache. Nach Ihrer Erfahrung: Gibt es tatsächlich so etwas wie einen Werther-Effekt?“

„Sie meinen Nachahmungstaten, zum Beispiel nach Medienberichten?“ Beermann faltete die Hände über dem Bauch, der sich unter seiner braunen Strickjacke wölbte. „Ja, sicher, das gibt es. Gerade Menschen, die bereits unter Depressionen leiden, können durch eine, sagen wir mal, emotionale oder gar glorifizierende Berichterstattung zu einem Suizid veranlasst werden.“

Depressionen? Darunter hatte Ben wohl nicht gelitten — zumindest dem äußeren Anschein nach und nach dem, was seine Mitstudentinnen und -studenten erzählten.

„Kann so eine Selbsttötung auch eine Kurzschlusshandlung sein?“ Chris versuchte seine Gedanken möglichst präzise zu formulieren und der Psychologe wartete dankenswerterweise ab, bis er die passenden Worte gefunden hatte. „Was ich damit meine: Kann es sein, dass so eine Selbsttötung auch manchmal unverhofft geschieht, ohne dass das Umfeld das hat kommen sehen?“

Beermann ließ sich mit seiner Antwort ebenfalls Zeit. „Sicher. Möglich ist prinzipiell alles. Bei den meisten Betroffenen geht der Tat eine Erkrankung voraus, wie eine Depression oder eine Sucht. Aber gerade junge Menschen können manchmal sehr impulsiv handeln. Etwa von einer Brücke springen oder, das dann eher in den USA, sich erschießen.“

„Aus einer bestimmten Situation heraus?“

„Ja, oder genauer, aus einem momentanen Gefühl der Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Ein Beispiel: Nur wenige überleben den Sprung von der Golden Gate Bridge in San Francisco. Aber von denen erzählen die meisten, dass sie in dem Moment, wo sie das Geländer losgelassen haben und gesprungen sind, gedacht haben, dass das ein Riesenfehler war und sie leben wollten. Habe ich jedenfalls gelesen.“

Schrecklich. Ob es Ben auch so gegangen war, direkt nach dem Sprung? Nicht auszudenken. Falls er sich selbst getötet hatte, was aber noch gar nicht feststand.

Chris überlegte gerade, ob es noch etwas gab, das er von dem Psychologen wissen wollte, da klingelte dessen Telefon.

„Sie entschuldigen“, sagte Beermann.

Während der Psychologe mit dem Anrufer oder der Anruferin sprach, ging Chris auf und ab, schaute aus dem Fenster und blickte in den Nebenraum.

Sollte er gehen? Wäre das unhöflich? Oder sollte er lieber das Ende des Telefonats abwarten?



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